Andrea Abreu: Meisterin der Kippmomente (2024)

Andrea Abreus Roman "So forsch, so furchtlos" ist nicht nur in Spanien Kult. Ein Treffen auf Teneriffa mit der Autorin, die zeigt, wie poetisch das Vulgäre sein kann

Von Sarah Murrenhoff

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LatentesDuckface, nicht zu viel. Geschminkte Lippen, in demselben Burgunderrot wie das Buchcoverneben dem Kopf. Stylischer Bob mit Pony, braune Haare auf der einen, blondierteauf der anderen Seite. Jetzt noch der Blick in die Kamera. Ein Selfie mit Buch.So weit, so vorhersehbar für den Instagram-Account einer 27-jährigenSchriftstellerin. Aber Andrea Abreu ist vieles, nur eins nicht: vorhersehbar.Wischt man weiter, ertönt Reggaeton aus einer Lautsprecherbox inBenzinkanister-Style. Na dann: Dáme más gasolina! Und dann – weiterwischen –sieht man sie, den Jutebeutel noch über der Schulter, in einem Gif in dieKamera twerken. Im Hintergrund die Berge Teneriffas, ihr Zuhause, ihr Ein undAlles, das gleichzeitig so zwiespältige Gefühle in ihr auslöst.

EineSchriftstellerin, die ihren Po zum Vibrieren bringt, mit diesem umstrittenen Tanzmove– obszöne Provokation für die einen, feministisches und dekolonialesEmpowerment für die anderen. Die Ambivalenz ist Andrea Abreus größtesMarkenzeichen. Ihr Debütroman So forsch, so furchtlos haut einen um wie eineNaturgewalt. Die Geschichte einer innigen Freundschaft zweier zehnjährigerMädchen an der Schwelle zur Pubertät ist eine nahezu körperliche Erfahrung, sovoll von Sinnlichkeit, Schmerz, Lebenslust. In Spanien wurde der Roman 2020überraschend zum Kult, inzwischen ist er in 19 Ländern erschienen. Das britischeGranta-Magazin zählt Abreu zu den 25 besten Autorinnen und Autoren unter35 aus dem gesamten spanischsprachigen Raum. Wer die Granta-Listen kennt,weiß: Wer darauf landet, hat eine Zukunft. Das ist umso überraschender, weilmit Abreus Vergangenheit diese Zukunft wohl niemand erwartet hätte.

Was man halt so hört in einem Arbeiterbergdorf

"Ich hatte alleVoraussetzungen, mich nicht für Literatur zu interessieren", sagt Abreu beiunserem Treffen in La Laguna, der Universitätsstadt im Norden Teneriffas, wosie kaum über die Straße gehen kann, ohne um ein Autogramm gebeten zu werden."Als wäre ich ein Rockstar", sagt sie und lacht, "aber hey, es ist nur einBuch!" Ihr Lächeln ist breit. Sie bemüht sich, heiter zu wirken, aber das Themaist ihr ernst. "Während sich andere in klassischer Literatur gebildet haben,habe ich vor allem getanzt." Reggaeton, Hip Hop, Merengue. Was man halt so hörtin einem Arbeiterbergdorf im rauen Norden Teneriffas, wo stets eine dickeWolkendecke in den Bergen hängen bleibt, welche die Sicht auf Himmel und Sonneversperrt und darunter diese ganz spezielle bedrückende Stimmung erzeugt, dieAbreu in ihrem Roman so eindrücklich beschreibt. Abreus Mutter hat Hotelsgeputzt, ihr Vater den Touristen immer weitere Hotels gebaut. Abends kamen sienach der körperlichen Arbeit erschöpft nach Hause. Zum Lesen hatte niemand dieMuße. Nicht ein Buch gab es in ihrem Haushalt. "Ich habe das immer als Armutempfunden", erzählt Abreu. Ihre Stimme ist hell, aber sehr klar. Ihre Gedankenführt sie in der Geschwindigkeit eines Rap-Songs aus. Und wie bei einem Rap-Song sitzt jedes Wort, kein einziges wirkt austauschbar.

Die Schamnistete sich schleichend ein, vielleicht begann es in der Schule, als dieLehrer ihr sagten, sie solle nicht so laut reden. Aber ihre Mutter redete laut,ihre Oma, alle Leute in ihrem Viertel redeten laut und mit kanarischem Dialekt.Und mit einem Mal war es angeblich unanständig, so zu sein wie sie. Die Wörterund Satzstellungen, die für Abreu selbstverständlich waren, ihre Art zu lachenund zu sein, alles war plötzlich falsch und unangemessen. Niemand sah denReichtum ihrer Kultur: die Varianz in der Sprache zum Beispiel oder die vielenkanarischen Gruselgeschichten, die ihr Vater so fesselnd erzählen konnte – unddie sie erst viele Jahre später als Literatur anerkennen sollte, als sie imStudium den Begriff der oralen Literatur kennenlernt.

Das mit derScham müsse man sich vorstellen wie eine undichte Stelle im Dach, sagt Abreu. "Essickert durch, ganz langsam, erst wird es feucht, dann schimmlig, dann beginntes zu tröpfeln, und irgendwann stürzt alles ein." Dieser Moment kam mit Beginnder Universität. Sie war dank eines Stipendiums in einer vollkommen neuen Weltgelandet, einer Welt mit Lesekreisen und akademischen Diskursen, zu der diemeisten aus ihrem Bergdorf keinen Zugang hatten. Alles wurde ihr zu viel: diegepamperten Lehrerkind-Kommilitonen, die viel zu komplizierte Welt, derenProbleme sie zunehmend klar zu benennen lernte, und ihr viel zu komplexes Selbst,das in den ersten Unijahren permanent damit beschäftigt war, sich gleichermaßenselbst zu verleugnen und neu zu erfinden. Alles prasselte auf sie ein, siefühlte sich gelähmt. Das Wort "Angst" fällt oft während des Gesprächs: Seelenangst,Klimaangst, Verlustangst, Angst um die ausgebeutete Natur und die ausgebeutetenMenschen ihrer geliebten Insel.

"Dieser Ort hat mich aufgefangen"

Sie schütteltden Kopf, als wünschte sie sich eine Pause von sich selbst. "Ach, ich fühle michimmer fatal", sagt sie und meint damit, dass sich alles immer so verhängnisvollanfühlt. Die Freundin, die sie just heute noch zum Weinen gebracht hat. DieNatur, die sie unter den Baggern ächzen hört, weil belgische Multimillionäreeinen weiteren Hotelklotz an den letzten Abschnitt unverbauten StrandTeneriffas setzen. Der Waldbrand, der sich für sie anfühlt, als würde sieselbst verbrennen. Bis heute brodelt es konstant in ihr, wie der Vulkan derInsel, den sie liebevoll "Papi Teide" nennt. "Das ist ein Überbleibsel ausunserer heidnischen Vergangenheit", erklärt die Autorin, "wir Kanaren fühlenuns sehr verwachsen mit der Erde, auf der wir leben." Tatsächlich: Da scheintwenig Grenze zwischen ihr und dem Rest der Welt zu sein, alles ist fluide: angefangenbei Freundschaften und Liebesbeziehungen, zwischen denen sie nicht klarunterscheidet. "Alles berührt mich ständig – die schönen Dinge ebenso wie dieunschönen." Aber damals, zu Beginn des Studiums, brach alles zusammen. Sierutschte in eine Depression.

"Dieser Orthier hat mich aufgefangen." Abreu sieht sich um, ihre extravagante Cat-Eye-Sonnenbrille scheint in diesem Moment ihren einzigen Sinn darin zu haben, dieWelt ein kleines bisschen von sich fern zu halten. Sie streichelt Bimba, einescheue Hündin, die sie vor sechs Jahren auf einer kanarischen Webseite fürausgesetzte und traumatisierte Hunde adoptiert hat und die sie überall hinmitnimmt, ihr Trockenfrüchte und Nüsse zu fressen gibt – wegen Bimbas Allergien.Und vermutlich, weil die Autorin selbst vegan lebt. Abreus Hand sucht denKontakt zum Fell ihrer Hündin, jedes Mal, wenn ein Moment des Nachdenkenskommt, wenn sie nicht mehr so durch ihre Sätze rast, ihre Stimme höher undbrüchiger wird. Es ist wie ein Kippbild oder wie ein Swipe auf Instagram: Voneiner Sekunde auf die andere wirkt die gesprächige und selbstbewusste jungeFrau ganz fragil – und als steckte in diesem schmalen Körper mit derbauchfreien lila Bluse und der schwarzen Culotte mit den langen Beinschlitzeneine alte Frau, die am Schmerz der Entzweiung von der Welt zugrunde geht.

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Author: Laurine Ryan

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