Dann rollte die Wolke aus Asche, Staub und Gestein auf ihn zu - und die Verbindung brach ab. Es war ein klarer Frühlingsmorgen am Sonntag, den 18. Mai 1980, und eine der spektakulärsten Naturkatastrophen des 20. Jahrhunderts nahm ihren Lauf. Am Ende sollte sie 57 Menschen das Leben kosten - man kann diese Zahl noch als großes Glückbezeichnen.
Für viele, die an diesem Sonntag Angehörige oder ihr Hab und Gut verloren haben, war die Explosion der Beginn eines "Nachhers", der Anfang einer schweren Zeit. Für andere, etwa für jene Wissenschaftler, die den Berg seit Wochen intensiv beobachtet hatten, war sie eine Art Abschluss. Denn sie wussten, dass etwas passiert; nur nicht, dass es so groß und so schrecklichwird.
Die Behörden entschieden sich dagegen, eine großräumige Sperrzone einzurichten
Aus geologischer Sicht aber war der Ausbruch weder das eine noch das andere, sondern nur die unvermeidbare Folge eines langen Spannungsaufbaus, ein gewöhnlicher und sicher nicht der größte Zwischenschritt in einem seit Urzeiten andauernden Prozess. Er begann nicht an diesem Sonntag im Mai 1980. Und auch nicht zwei Monate zuvor, als der Vulkan mit kleineren Erdbeben und Eruptionen nach langer Zeit aus dem Schlaferwachte.
Noch nicht einmal irgendwann in den vergangenen 40 000 Jahren, als der Mount St. Helens entstand. Auf geologischen Zeitskalen ist diese Zeitspanne nur ein Wimpernschlag. Wenn es überhaupt einen Anfang gab, dann war es im Jura, vor rund 150 Millionen Jahren, als der Superkontinent Pangaea auseinanderbrach und sich schließlich Nordamerika von Europatrennte.
In der Folge dieses kolossalen Gerempels in der Erdhülle wurde die Farallon-Platte unter die nordamerikanische Platte geschoben. Ein Überbleibsel der Farallon-Platte ist die Juan-de-Fuca-Platte, die noch heute vor der Küste des US-Bundesstaats Washington dabei ist, unter den amerikanischen Kontinent abzutauchen, mit bis zu vier Zentimetern pro Jahr. So wurde einst auch das vulkanische Kaskadengebirge emporgeschoben, zu dem Mount St. Helensgehört.
Der Druck, der sich dort unter dem Ozean aufbaut, ist gewaltig. Geologen erwarten früher oder später, dass "The Big One", ein Erdbeben, gefolgt von einem Tsunami, riesige Gebiete im Nordwesten der USA verwüsten und Abertausende Opfer fordernkönnte.
Aber auch die Vulkane auf Subduktionszonen sind tückisch. Das Magma enthält viel Kieselsäure, Wasser und gelöste Gase. Wenn dieses Gemisch unter hohem Druck an die Oberfläche steigt, gleicht das System einer kräftig geschüttelten Colaflasche. So lange der Deckel drauf bleibt, sieht von außen alles in Ordnung aus. Aber wehe, jemand schraubt die Flascheauf.
Mitten im Kalten Krieg arbeiteten sowjetische und US-Wissenschaftler zusammen
Ungefähr das war im Frühling 1980 unter dem Mount St. Helens geschehen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Vulkan geschwiegen. Am 16. März 1980 begann eine Serie kleinerer Erdbeben, die zeigten: Der Berg erwacht, das Magma darunter beginnt, sich zuregen.
Erdbeben und Vulkanausbrüche können unabhängig voneinander sein, sich aber auch gegenseitig befördern: Das Magma, das sich über viele Jahre unter dem Berg angesammelt hatte, schob und drückte, bis die Erde nachgab und bebte. Die Beben wiederum trugen immer wieder dazu bei, dem Magma neue Wege zubahnen.
Am 27. März brach der Vulkan erstmals nach mehr als 120 Jahren aus: Eine Dampfexplosion sprengte einen breiten Krater in den bis dahin perfekt konischen, eisbedeckten Gipfel. Asche färbte den Schnee grau. Und damit begann das Warten. Die Geologen wussten, dass etwas im Gange war; aber wann der große Ausbruch kommen würde, das wussten sienicht.
In der Erforschung und Überwachung von Vulkanausbrüchen hat sich seit damals viel getan, nicht zuletzt dank den Daten, die rund um den Ausbruch des Mount St. Helens gesammelt wurden. Aber ein Problem der Überwachung bleibt bis heute bestehen: "Wir merken heute fast immer, wenn ein Vulkan erwacht", sagt Christoph Kern vom Volcano Science Center der US Geological Survey. Viel schwieriger ist es meist, den genauen Zeitpunkt vorauszusagen, an dem er letztlich ausbricht: "Das konnte man damals nicht, und das könnte man auch heutekaum."
Vulkanausbruch
:Asche über Europa
Vulkanausbruch
Vor zehn Jahren brach der isländische Vulkan Eyjafjöll aus, eine Aschewolke legte wochenlang die Luftfahrt lahm. Die Naturkatastrophe hat auch geholfen, das Fliegen sicherer zu machen.
In seinem 2016 erschienenen Buch "Eruption" über den Ausbruch beschreibt der US-Wissenschaftsautor Steve Olson detailreich die Wochen bis zum Unglück am Mount St. Helens. Er schildert, wie der Vulkan begann, sich an der Nordseite immer bedrohlicher auszubeulen. Wie die Vulkanologen den Geomechaniker Barry Voight zu Rate zogen, den Onkel der (damals erst vierjährigen) Schauspielerin Angelina Jolie. Wie Voight in seinem Bericht zum Schluss kam, dass der Nordhang instabil sei und dessen Abrutschen eine seitliche Explosion zur Folge habenkönnte.
Dennoch entschieden sich die Verantwortlichen fatalerweise dagegen, eine großräumige Sperrzone einzurichten. Unter anderem, weil man ungern das private Land des Forstwirtschaftskonzerns Weyerhaeuser sperren wollte. Schließlich gab es einen Kompromiss, der große Gebiete rund um den Vulkan zumindest nur eingeschränkt betretbar gemacht hätte - der aber das Büro der damaligen Gouverneurin Dixy Lee Ray erst am Samstag, den 17. Mai erreichte. Da war sie bei einer Parade zum Rhododendron-Tag. Als Ray zurückkam, hatte der Berg bereits dafür gesorgt, dass sich alle Diskussionen über Sperrzonenerübrigten.
Vielleicht war David Johnston auf seinem Beobachtungsposten gegenüber des Berges der erste, der sah, was passierte. Seine Kollegen und er hatten angenommen, der Vulkan würde noch eine letzte Warnung abgeben, bevor er wirklich ernst machte. Stärkere Erdbeben, erhöhte Schwefelgas-Austritte, so etwas. Aber zuletzt war es vergleichsweise ruhig gewesen, und die letzten Gasmessungen hatten nichts Besonderes ergeben. Dass man an so wasserhaltigen Vulkanen wie Mount St. Helens nicht unbedingt mit Schwefelgasen rechnen muss, weil sie sich im Innern des Vulkans lösen können, fand man erst viel späterheraus.
Und so blieb jede Warnung aus. Stattdessen rutschte nach einem letzten, gewaltigen Erdbeben der Magnitude 5,1 fast der gesamte Nordhang ab, etwa drei Kubikkilometer Fels, Erde und Eis glitten ins Tal. Es war der größte terrestrische Erdrutsch, der je beobachtet wurde; eine teils Dutzende Meter dicke Schicht aus Stein und Erde formte die Landschaft an der Nordseite des Vulkans neu. Viel schlimmer aber war das, was der Erdrutsch im Innern des Bergesanrichtete.
Bis zum 18. Mai 1980 betrachtete man ein so großes seitliches Abrutschen als exotisches Szenario - nicht ausgeschlossen, aber auch nicht sehr wahrscheinlich. Nach dem Ereignis änderte sich das radikal. "Erst danach begab man sich auf eine weltweite Spurensuche und hat festgestellt, dass etwa drei Viertel aller hohen Vulkane Spuren von solchen Rutschungen zeigen", sagt Thomas Walter vom Geoforschungszentrum Potsdam. In vieler Hinsicht war der Ausbruch des Mount St. Helens ein Wendepunkt in derForschung.
Mitten im Kalten Krieg kamen US-Wissenschaftler mit sowjetischen Kollegen ins Gespräch, Daten wurden geteilt. "Damals wurden Brücken geschlagen, zwischen den USA und Russland, aber auch zwischen Geowissenschaftlern, Ingenieuren und Sozialwissenschaftlern", sagt Walter. "Die Nachbearbeitung des Ereignisses war eine Erfolgsgeschichte, kaum ein Vulkanausbruch wurde so präzise dokumentiert undanalysiert."
Und so wurde in den Jahren nach der Katastrophe immer klarer, was an jenem 18. Mai genau passierte. Der Druck im Vulkan war bis dahin immens gewesen. Aber weil die Bergwände gegenhielten, blieb das Magma trotz vieler eingeschlossener Gasbläschen eine zähflüssige Masse. Als die Nordwand schließlich wegglitt wie der Deckel von der Colaflasche, raste eine Welle des Druckabfalls quer durch den Berg, bis zur Südwand und wiederzurück.
Wo sie vorbeikam, dehnten sich die Gasblasen im Magma aus. Wegen seiner Zähflüssigkeit konnte es jedoch kaum nachgeben und zersplitterte wie Glas. Das Ergebnis war ein Gemisch aus Gas und Magmasplittern, sogenannten Pyroklasten, das sich rasend schnell weiter ausdehnte und für das es nur einen Ausweg gab - das klaffende Loch in derNordwand.
Von dort trat mit einer gigantischen Druckwelle ein sogenannter "pyroklastischer Strom" aus, eine heiße Wolke aus Asche, Lavasplittern, Staub und Vulkangestein, die mit fast 500 Kilometern pro Stunde über die Landschaft rollte und alles in ihrem Weg niederwalzte. Insgesamt wurde eine Energie von 24 Megatonnen TNT-Äquivalenten freigesetzt - das 1600fache der Hiroshima-Atombombe. Das verwüstete Gebiet erstreckte sich vom alten Berggipfel 20 Kilometer nordwärts; noch in 400 Kilometern Entfernung verdunkelte die Asche mancherorts denHimmel.
Dave Johnston und 56 andere Menschen hatten das Pech, zu nah am Vulkan zu sein. Nur drei von ihnen befanden sich in der Sperrzone. Manche wurden von der Schlammlawine begraben, von umfallenden Bäumen getroffen oder starben an der bis zu 360 Grad heißen Wolke. Die meisten jedoch erstickten wie einst die Bewohner von Pompeji an Staub und Asche. Einige Opfer wurden niegefunden.
Manche fand man tot in ihren Autos, wie eine Rentnerin aus Kalifornien, deren Handtasche voller Kokain und Bargeldbündeln war, wie Steve Olson beschreibt. Wäre das Gleiche an einem Wochentag passiert, hätte man wohl noch Hunderte Holzfäller zu den Opfern zählenmüssen.
Andere jedoch wurden spektakulär gerettet. Das Ehepaar Mike und Lu Moore war mit ihren vier Jahre und drei Monate alten Töchtern auf einem Campingausflug am Green River, etwa 20 Kilometer vom Mount St. Helens entfernt, als der Vulkan ausbrach. Als die Asche den Himmel nachtschwarz färbte und das Vulkangewitter Blitze und Donner losjagte, suchten die Moores Schutz in einer Jagdhütte und atmeten durch nasse Socken, um ihre Lungen zuschützen.
Als das Schlimmste vorbei war, machten sie sich auf den mühsamen Weg durch den verwüsteten Wald voller umgestürzter Bäume. Erst am nächsten Tag wurden sie von einem Helikopter gesichtet. "Lass das verdammte Ding zurück", brüllte der Pilot, als er Lus großen Rucksack sah; er fürchtete, seine Maschine damit zu überladen. "Da ist ein Baby drin!" brüllte Lu zurück. Alle vier wurden wohlbehaltengerettet.
Sich sicher fühlen und tatsächlich sicher zu sein - das ist ein großer Unterschied
Seit damals hat die Überwachung von Vulkanen große Fortschritte gemacht. "Mit der Zeit lernen wir immer mehr darüber, was passiert und welche Technologien nötig sind", sagt Seth Moran, Leiter des Cascades Volcano Observatory der US Geological Survey. 1980 bestand die Überwachung in erster Linie aus einem Netz von Seismografen und direkter Beobachtung. Heute erkennen zusätzlich GPS-Empfänger kleinste Verformungen der Oberfläche, Webcams sind installiert, auchInfraschall-Sensoren.
Vulkanologen müssen nicht mehr wie Johnston ihr Leben beim Versuch riskieren, vor einem bevorstehenden Ausbruch zu warnen. Das Sensoren-Netzwerk für Mount St. Helens sei sehr gut, sagt Moran. Das gilt allerdings nicht für alle Vulkane in der Kette: "Auf manchen Vulkanen in unserem Gebiet sind nicht genug Instrumente." Auf Mount Hood etwa, der ebenfalls gefährliche Erdrutsche produzieren könnte. Strenge Naturschutz-Regeln erschweren den Aufbau zusätzlicherInstrumente.
Nach der Katastrophe im Jahr 1980 verklagten die Angehörigen einiger Opfer den Bundesstaat Washington und den Weyerhaeuser-Konzern, weil sie die gefährdeten Gebiete nicht geräumt hatten. Ein Gericht sprach den Staat jedoch von jeder Verantwortung frei, Gouverneurin Ray hätte auf Basis der verfügbaren Informationen eine legitime Entscheidung getroffen. Was Weyerhaeusers Schuld anging, konnten sich die Geschworenen nicht einigen; schließlich gab es einen Vergleich. So wie Olson die Ereignisse schildert, erscheint das Handeln von Behörden und Konzern im Nachhinein jedoch als grobfahrlässig.
Diese Sicht aber ist unter Experten umstritten. "Wenn wir heute in einer ähnlichen Situation wären, gäbe es wahrscheinlich eine größere Sperrzone", sagt Christoph Kern. "Aber im Nachhinein, 40 Jahre später, sagt sich das leicht." Er stand schon oft an der Stelle, an der David Johnston starb. "Ehrlich gesagt: Ich hätte mich dort auch ziemlich sichergefühlt."
Aber sich sicher fühlen und tatsächlich sicher sein, das ist ein großer Unterschied, wenn es um Vulkane geht. Die geologische Uhr tickt langsam; und was in den vergangenen Jahrtausenden nicht passiert ist, kann übermorgen trotzdemeintreten.